Kein Verkehrsschild - der Sicherheit zuliebe Leiter der Bremer Verkehrswacht plädiert für radikales Umdenken im Straßenverkehr Von unserer Redakteurin Rose Gerdts-Schiffler
BREMEN. Axel Behme muss nicht weit gehen, bis er in Bremen eine Straße findet, aus der er alle Verkehrsschilder, Ampeln und Bürgersteige entfernen würde - der Sicherheit zuliebe. Vor dem Pressehaus in der Martinistraße bleibt er stehen und beschreibt mit der Hand unter dem tosenden Gedonner eines Sattelzuges eine Strecke von der Handelskrankenkasse bis zur Brillkreuzung: "Hier wär's ideal." Ein Autofahrer bremst, der andere hupt, es rauscht und röchelt und dann steht auf einmal alles ein, zwei Minuten still und Dutzende von Fußgängern hetzen über die Straße Richtung Schlachte. Hier, ausgerechnet hier, würde der Leiter der Bremer Verkehrswacht und Verkehrssicherheitsberater der Bremer Polizei am liebsten alle Schilder abbauen und ein sogenanntes Shared Space-Modell einrichten. Also einen Verkehrsraum, in dem Fuß- und Radwege samt Fahrbahnen ineinander übergehen und durch nichts farblich oder optisch getrennt werden. "Die Leute werden glauben, ich bin wahnsinnig geworden", prophezeit Axel Behme. Aber wer einmal die Kleinstadt Bohmte besucht habe (siehe Bericht unten) oder die Erfolge in der Unfallstatistik aus den Niederlanden verfolge, sei von dieser neuen Verkehrsphilosophie infiziert. Der langjährige Leiter der Verkehrswacht und Schutzpolizist ist Pragmatiker. "Shared Space heißt nicht Disneyland ohne Parkhäuser und Autos. Die umgebauten Abschnitte sind weiterhin urbaner Lebensraum für alle Verkehrsteilnehmer." Beim Umbau der Martini-straße sei eine historische Chance verpasst worden, glaubt Behme. So, wie der Verkehr jetzt durch die Hauptstraße rausche, schneide die Martinistraße die Altstadt vom Fluss ab. Doch statt den Verkehr umzuleiten, oder Holperschwellen, Berliner Kissen oder Baumnasen einzubauen, würde Behme als eine von vielen Maßnahmen die Ampeln in der Nähe des Pressehauses abbauen. "Eine Ampel verspricht zu Unrecht Sicherheit und zieht Geschwindigkeit an", behauptet der Verkehrsexperte. Bei Gelb werde noch schnell Gas gegeben, anstatt zu stoppen und mit 65 Kilometer pro Stunde rauschten viele Autos dann bei Rot rüber. Doch dann entdeckt Behme erfreut erste Ansätze wie beim Modellprojekt in Bohmte: Der Vorplatz vom Pressehaus "verschwimmt" baulich und optisch mit der Fahrbahn der Langenstraße und der Einfahrt zum Parkhaus. Alles ist gleich hoch und mit demselben Material gepflastert und verströmt die Aura eines Platzes. Und tatsächlich gehen Auto- und Radfahrer am Eingang der Langenstraße sofort mit dem Tempo runter. Ein Café betreibt erfolgreich Außentische. "Diese Idee hätten die Stadtplaner auch auf die Martinistraße ausweiten müssen", sagt Behme bedauernd. Eine neue Chance ergebe sich beim geplanten Umbau der Straße Vor dem Steintor und dem Ziegenmarkt. Aus der Kleinstadt Bohmte weiß der Verkehrsexperte inzwischen, dass eine gelungene Bürgerbeteiligung ausschlaggebend für den Erfolg von Shared Space-Modellen ist. Vier Jahre hatten die Bohmter Geschäftsleute, Politiker und Bürger getagt und beraten - jetzt wollen es ihnen die Hamburger und Hannoveraner nachmachen.
Bohmter Bürger verzichten auf Ampeln und Bürgersteige Niedersächsische Kleinstadt zieht Experten aus aller Welt an Von unserer Redakteurin Rose Gerdts-Schiffler
BREMEN-BOHMTE. Seit einigen Monaten sorgt eine Kleinstadt in Niedersachsen für Schlagzeilen in Japan, Russland und New York: Bohmte bei Osnabrück. Delegation für Delegation wird seit Mai durch den Ortskern mit seinem schlichten, hellen Kirchenbau geführt, und Verkehrsexperten aus aller Welt staunen, wie aus der einst lärmenden Durchgangsstraße ohne Autofahrerschikanen wieder ein lebenswerter Aufenthaltsort geworden ist. Und das, obwohl weiterhin rund 12 500 Lastwagen und Autos Tag für Tag durch Bohmte fahren. Das Zauberwort heißt "Shared-Space" und ist eine Erfindung aus den Niederlanden. Dort hatte vor 20 Jahren der Verkehrsplaner Hans Monderman ein Modell entwickelt, nachdem ein optisch begrenzter Verkehrsraum Fußgängern, Radfahrern und Autos gleichberechtigt zur Verfügung steht. Der so geschaffene Raum kennt keine Ampeln, Bürgersteige, Fahrbahnen oder Verkehrsschilder. Alles sieht aus wie ein großer Platz. Der Bohmter Polizeibeamte Peter Hilbricht hätte denn auch im Vorfeld "Haus und Hof verwettet, dass das Chaos" ausbricht. Inzwischen gehört der Beamte zu der rasant wachsenden Fangemeinde von "Shared Space". Anwohner schwärmten einer Delegation aus Bremen jüngst vor, es sei soviel leiser und entspannter geworden. Und viele andere klagen, dass das Modellprojekt bislang nur auf den 450 Meter langen Ortskern beschränkt wurde. Das Geheimnis des Erfolges scheint darin zu liegen, dass alle Verkehrsteilnehmer unsicher sind und aufmerksam die anderen beobachten. Rechts vor links, Blickkontakt, Handzeichen und Rücksicht sind die bestimmenden "Regeln". Keine Ampel oder kein Tempo-30-Schild suggerieren Sicherheit. Alle Schulwege von Bohmte führen über die Durchgangsstraße, aber selbst ABC-Schützen kommen ohne Gefahr von einer Seite auf die andere. Seit Mai gab es auf dem Abschnitt keinen Unfall. Üblich waren sonst auf dieser Teilstrecke 43 Unfälle pro Jahr.
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