Weser-Kurier 2. Oktober 2008
Weser - Kurier / Bremer Nachrichten, 2. Oktober 2008
"Bürgerbeteiligung wird ignoriert"
Von unserem Redaktionsmitglied
Wigbert Gerling
BREMEN. Ein vernichtendes Urteil über die Beteiligung von Bürgern an politischen Prozessen hat gestern der frühere Sozialstaatsrat Hans-Christoph Hoppensack gefällt: Die "Ignoranz" von Politik und Verwaltung gegenüber den Menschen sei von so erheblichem Ausmaß, dass sie "demokratiefeindliche und zerstörerische Wirkung" entfalte.
Als Vertreter der Bürgerstiftung Bremen legte Hoppensack gestern den Abschlussbericht der Bremer Initiative Aktive Bürgerstadt zum Projekt "Bürgerforum 2006" vor. Fast 300 Vorschläge hatten Bremer Bürger per Internet eingebracht, um das Leben in der Stadt zu verbessern. So wünschten sie sich mehr Toiletten und Bänke für die Innenstadt, abgesenkte Bordsteine an Straßeneinmündungen, einen Boule-Platz am ehemaligen Ortsamt West, mehr Hinweise auf Englisch für Touristen, eine Versicherung für Politiker, die die Kosten von Fehlentscheidungen trägt oder bessere Bahnanbindungen zu den nächstgelegenen Großstädte.
Nicht alles haben Politik und Verwaltung in Bausch und Bogen verdammt. 42 Prozent der Ideen und Anträge, so Hoppensack, seien heute ganz oder teilweise umgesetzt. Fast 60 Prozent scheiterten - entweder an ungeklärter Zuständigkeit oder am fehlenden Geld. Einige Ressorts, etwa Wirtschaft und Häfen, verträten sogar kategorisch die Meinung, die repräsentative Demokratie schließe Bürgerbeteiligung aus.
Eine Haltung, die der ehemalige Staatsrat nicht akzeptieren will: So entstehe beim Bürger das Gefühl, seine Interessen seien bei "den Mächtigen" nicht vertreten, Akzeptanz für die Institutionen der Demokratie gehe weiter verloren. "Die Bürger zeigen, dass sie nicht nur alle vier Jahre, sondern ständig gefragt werden wollen." Auf Dauer würden so "populistische Gruppierungen" in der Politik weiterhin Zulauf gewinnen, was sich derzeit in Bayern gut zeige.
Wo Bürgerbeteiligung funktioniere, etwa in Nürtingen, Filderstadt und Essen, sei sie an höchster Stelle angebunden, also beim (Ober-)Bürgermeister. Das, so Hoppensack, sei auch in Bremen dringend geboten. "Das politische System muss die Interessen der Bürger ständig und systematisch aufgreifen." Dies zu missachten, gehöre zu den "Todsünden der Politik". Nötig seien feste Strukturen mit erfahrenen Moderatoren.
Gelungene Beispiele gebe es auch in Bremen - Pauliner Marsch, Stadionbad, Stephaniviertel. Meist werde der Bürger aber zu spät oder gar nicht eingebunden, wie der Bau der A 281 zeige, wo Hoppensack jetzt einen Runden Tisch moderiert. "Die Menschen müssen schon im Vorfeld beteiligt werden." Das sei nicht immer möglich, aber viel häufiger als derzeit Praxis.
Arbeitnehmerkammer und Bürgerstiftung haben das Bürgerforum 2006 getragen, Bürgerschaftspräsident Christian Weber war Schirmherr, Bürgermeister Jens Böhrnsen hat es unterstützt. Dennoch habe es "teilweise ein Jahr gedauert", bis die Verwaltung Bürgeranliegen überhaupt beantwortet hätten, kritisierte Hoppensack. "Ein Unding."